Gestern, ich war an einem Strand in Portugal, begann es zu Regnen und mit dem Regen überfiel mich ein Gefühl der Trauer. Ich war am Strand, um mich nach einem Monat in diesem schönen Land zu verabschieden. Die Heimreise stand bevor. Die Trauer wurde größer und größer. Tränen stiegen mir in die Augen. Das Gefühl, das hier hochkam, hatte nichts mit diesem Abschied zu tun. Ich bin keine sentimentale Abschiednehmerin. Das Gefühl, das hochkam, hatte viel mehr mit meiner Schulzeit zu tun: es war das Gefühl der Sinnlosigkeit.

Ich kannte es so gut!

Mindestens für ein Jahrzehnt war dieses Gefühl und das darin Gefangensein mein hauptsächliches Grundgefühl. Wahrscheinlich könnte man auch von Depression sprechen.

Als ich im Auto saß, um dem Regen zu entkommen und wieder in meine Unterkunft zu fahren, begann ich bitterlich zu weinen.

In der Sinnlosigkeit gefangen sein.

Alles war wieder da. Alles davon ließ sich wieder spüren. Ich weinte und schluchzte…

Ich kenne solche emotionalen Aufarbeitungsprozesse. Als Körperarbeiterin begleite ich auch immer wieder welche, viele habe ich auch selbst schon durchlebt.

Ich stieg also aus dem Auto, als der Weinanfall zu Ende war. Ganz bewusst blieb ich in meinem Fühlen, in meinem fragilen emotionalen Zustand. Schließlich weiß ich, wie kostbar solche Zugänge zu alten, stagnierten Emotionen sind. Ich wollte das nicht einfach wieder wegwischen und mich meinem Alltag widmen. Ich wollte dabei bleiben, immer weiterspüren und mich dabei beobachten.

Solche Zugänge sind die Chance zur Transformation!

Mein Sohn fragte mich, ob ich weiter aus „unserem“ Buch vorlesen könnte. Die Nähe zu meinem Sohn und die heimelige Atmosphäre bei einer spannenden Geschichte erschien mir genau das Richtige.

So konnte ich mich um beide Kinder kümmern, um mein eigenes inneres und mein tatsächliches äußeres.

Ich las und wir kuschelten. Bis ich merkte, dass meine Gedanken abschweiften. Ich dachte an die „Schulsituation“ meines Sohnes[1] und die bevorstehende Externistenprüfung.

Wir hatten immer noch nicht geklärt, ob, wann oder wie wir diese Prüfung machen wollen.

Als wir uns vor einem Jahr für den schulfreien Weg entschieden, ließen wir bewusst die Entscheidung offen, ob unser  Sohn zum Schuljahresende tatsächlich die Prüfung machen wird oder nicht. Ich bin überzeugt von der Idee des Freilernens und halte nicht viel von einer „Leistungsüberprüfung“, die sich noch dazu an einem Lehrplan orientiert, der sämtliche individuelle Persönlichkeiten über einen Kamm schert. Ich selber reise gerne und bin – beflügelt von der Schulfrei-Entscheidung – dabei, meine Arbeit ortsunabhängig zu gestalten. Es steht also auch die Möglichkeit im Raum, in ein Land zu ziehen, in dem Homeschooling auch ohne Prüfung möglich ist.

Es ist nun Ende April – wir haben noch knapp zwei Monate Zeit, die Gesetzeslage für Kinder im Häuslichen Unterricht zu erfüllen, eine/n geeignete/n Prüfungslehrer/in zu finden und das Zeugnis zu bekommen, das uns erlaubt, meinen Sohn im nächsten Jahr wieder zum Häuslichen Unterricht zu melden.

Oder, wir entscheiden uns für die Alternative: die Prüfung nicht zu machen und zu warten, wie schnell und in welcher Art die bürokratischen Mühlen dann mahlen…

Ich sehe also auf von unserem Buch und frage meinen Sohn, ob er mittlerweile wüsste, wie er der Prüfungsfrage begegnen möchte. Den Raum durch meine eigene Emotionalität geöffnet, fängt auch mein Sohn zu weinen an. Er sagt, dass er die Prüfung nicht machen möchte, genauso wenig möchte er in die Schule gehen oder ins Ausland ziehen.

Ich spürte seine Angst. Ich spürte das Gefühl der Sinnlosigkeit, der ausweglosen Sinnlosigkeit. Ich spürte, dass er spürte, was ich spürte – damals. Und vor einer Stunde. Jetzt.

Er weinte. Ich weinte auch.

Seit einem Jahr beobachte ich ihn mit seinem Widerstand gegen das Lesen und Schreiben. Er kann beides. Er hat beides in einer Montessori-Vorschule gelernt. Zu Beginn mit Spaß und Freude. Doch dann irgendwann begann der Druck. Druck erzeugt Widerstand. (Im Shiatsu behaupte ich ja das Gegenteil – dazu mehr ein andermal.) Und damit schlagen wir uns nun schon ein Jahr herum.

Ich weiß von dem Phänomen des „Deschoolings“. Ich weiß, dass das Abbauen des Drucks Zeit braucht, viel Zeit. Und ich weiß auch, dass die hauptsächliche „Arbeit“ diesbezüglich bei mir liegt, also bei uns Eltern.

Ich habe in meiner Schulzeit definitiv viel Druck und viel Machtmissbrauch erfahren. Für mich, und wohl für viele andere Menschen auch, ist schulisches Lernen an Druck gekoppelt. Wenn ich also immer wieder Mal an meine eigene Unsicherheit stoße, was den „Lernfortschritt“ meines Sohnes betrifft, dann kommt ganz schnell der Druck-Automatismus ins Spiel.

Ich erzeuge Druck, damit mein Sohn doch „endlich“ liest und schreibt!

 Und was passiert?

Ich verlängere mit jedem dieser „Ausrutscher“ die Unschooling-Phase. Und ich verstärke das Gefühl in meinem Sohn, dass er das Lesen und Schreiben nicht kann, dass er zu dumm, zu falsch, zu was-weiß-ich-was ist dafür. Weil er zu spüren bekommt, dass er schon längst etwas können sollte, wovon er denkt, dass er es nicht kann. Etwas, was einfach keinen Spaß mehr macht.

Wir sitzen also beide am Bett und weinen, ob des Gefühls der Ausweglosigkeit, der Sinnlosigkeit. Ich weine das Alte heraus, er das Jetztige.

Übertragung.

Wieder Mal ein Beweis dafür, dass sie funktioniert. Ich trage ein ungelöstes emotionales Problem in mir und übertrage es auf meinen Sohn. Obwohl ich die äußeren Bedingungen dafür sehr gewissenhaft anders gewählt habe.

Es zeigt wieder einmal: die äußeren Bedingungen sind letztendlich immer egal, wichtig und ausschlaggebend ist, was wir im Inneren in uns tragen!

Selbstsicherheit, Zufriedenheit und Erfüllung zu spüren, lässt uns in jedem System – egal ob Regelschule, Alternativschule, Freie Schule oder keine Schule – unsere Begeisterung und Freude beim Lernen wahrnehmen.

 Selbstzweifel, Kritik und Sabotage zu spüren, manifestiert in jedem System unser Scheitern und unseren Widerstand: Sinnlosigkeit.

In unserem hier erlebten Fall lösen wir die Übertragung auf, so hoffe ich. Wir heulen sie beide raus. Wir schaffen es, uns in unserem Schmerz zu verbinden. Ich strecke meine erwachsene Hand der Kinderhand entgegen, sage, dass ich mir sicher bin, dass wir einen Weg finden können, der uns allen entspricht.

Ich biete meinen absoluten Beistand an.

Und ich mache klar, dass ich aber auch „nur“ der Beistand sein kann. Den Weg zu gehen, kann ich meinem Sohn nicht abnehmen. Wenn er im Widerstand bleibt und weiterhin fest daran glaubt, dass alles sinnlos und ausweglos ist, dann sind auch mir die Hände gebunden. Er hat die Macht über sein Leben – ob er das will, oder nicht – ob ich das will, oder nicht.

Ja, ich könnte in zwingen – aber es würde zu keiner Erfüllung führen.

Er versteht. Er befreit sich von einem Schwall der Angst. Er hört auf zu weinen und sagt, dass er wieder weiterlesen möchte in dem Buch. Wir schlagen die Seite auf und er liest die Überschrift. Langsam und fehlerfrei!

Mein Herz springt vor Freude, wir schlagen ein. Ich umarme ihn. Seine Augen strahlen!

Ich sage, dass ich das Gefühl habe, dass die Prüfung ein Klacks für ihn ist. Alles was da gefragt oder verlangt wird, kann er. Er schreibt nicht gern oder viel. Aber er hat vor einigen Tagen eine Postkarte geschrieben. Inklusive Adresse. Er rechnet nicht gern mit Stift und Papier aber durchaus beachtlich im Kopf. Auch im großen Zahlenraum. Er versteht das Prinzip von Dividieren, auch wenn Multiplizieren schwerer greifbar ist für ihn. Er versteht das Prinzip von Prozenten. Er hat genaue Vorstellungen von Größeneinheiten und Distanzen. Er weiß wie schnell ein Flugzeug fliegt, wie schwer es ist und in welcher Höhe es fliegt. Er weiß wie groß die Erde ist und kann sich die Größenordnungen von den Distanzen zu anderen Planeten vorstellen. Er versteht vieles von Physik, Chemie und Technik. Er interessiert sich für Kampf, Krieg und Strategie. Er denkt vernetzt und kreativ.

Reicht das nicht für den positiven Abschluss der ersten Klasse?

Ich bin überzeugt davon. Und doch brauche ich sein „go“, um mich auf die Suche nach einer Lehrperson zu machen, die wohlwollend, nach dem Potenzial Ausschau haltend, diese „Prüfung“ abnimmt. Eine Person, die vielmehr ein Gespräch, als eine „Prüfung“ sucht, die ihm wieder ein Stückchen weiter zu seinem positiven Selbstbild verhilft!

Das Wertvollste jedoch, was ich tun kann, ist noch weiter schauen, in mir, ob ich etwas finde, dass einem kleinen Mädchen mit schulischen Selbstzweifeln gleicht. Wenn ich es finde, kann ich es in den Arm nehmen, es ermutigen weiterhin den Schmerz raus zu weinen. Ich kann es trösten.

Und ich kann nah an meinem Sohn bleiben und ihm immer wieder die erwachsenen Hand reichen. Ich kann ihn unterstützen, sich selbst zu spüren, sich selbst anzunehmen. Damit er sein Vertrauen in sich mehr und mehr stärken kann. Denn seinen Weg ist sein Weg, nur er kann erspüren und erkennen!

Und ich werde ihn jedenfalls darin begleiten. Mit all meiner Liebe! Mit all meinem Respekt!

 

[1] Mein Sohn ist in Österreich zum Häuslichen Unterreicht abgemeldet und geht daher nicht in die Schule. Um die Schulpflicht zu erfüllen, ist er verpflichtet, am Ende jedes Schuljahres eine sog. Externistenprüfung abzulegen. Dabei wird überprüft, ob sein Wissen lehrplankonform ist. Für uns steht diese Prüfung demnächst das erste Mal an.